Folter – Der neue UNO-Sonderberichterstatter für Folter Nils Melzer scheut sich nicht, sein Heimatland zu kritisieren: Über den Fall einer Baskin, die an Spanien ausgeliefert werden soll, spricht er von «Leisetreterei auf Kosten der Menschenrechte».
(Interview: Andrea Butorin, Bieler Tagblatt 27.05.2017)
Nils Melzer, für mich hat es etwas Surreales, mit Ihnen im hübschen Leubringen zu sitzen und über Folter zu sprechen. Wie ist das für Sie?
Nils Melzer: Es ist gut, wenn das Thema Folter für Sie abstossend ist, denn so soll es auch sein. Aber für mich ist das Thema mein Beruf und daher leider alltäglich.
Was nicht minder absurd ist: Man erwartet, dass Sie Länder wie Syrien rügen. Nun mussten Sie kürzlich in der Schweiz intervenieren, weil das Land die Baskin Nekane Txapartegi an Spanien ausliefern will, obwohl diese dort gefoltert worden sei.
Es gilt das Grundprinzip, dass Geständnisse, die erfoltert worden sind, in keinem rechtlichen Verfahren verwendet werden dürfen. Sollte sich darüberhinaus erweisen, dass unsere Behörden aus politischem Kalkül lieber riskieren, einen glaubwürdigen Foltervorwurf unter den Tisch zu wischen, als einem befreundeten Staat Folter vorzuwerfen, fände ich das fundamental schockierend. Wenn Frau Txapartegi nicht in Berufung gegangen wäre, würde der Behördenentscheid nun rechtsgültig und sie würde ausgeliefert. Und dies, obwohl die Glaubwürdigkeit ihrer Foltervorwürfe durch mehrere unabhängige Gutachten bestätigt worden sind.
In einem EU-Land wird also gefoltert!
Beweise haben wir nicht, aber diese Vorwürfe sind nichts Neues. Amnesty International hat darüber berichtet, und der europäische Menschenrechtsgerichtshof rügte Spanien mehrfach, weil es Foltervorwürfe offenbar nicht oder nur ungenügend untersuchte.
Im Fall der Baskin hat die Schweiz – wie Sie angetönt haben – ein Problem: Entweder wirft sie Spanien Folter vor, was eine diplomatische Krise zur Folge hätte, oder sie missachtet Ihre Intervention, was ebenfalls problematisch wäre.
Der Fall ist jetzt vom Bundesamt für Justiz an das Bundesstrafgericht übergegangen. Ich kann aber nur bei Regierungen intervenieren, nicht bei Gerichten. In solchen Fällen kann ich einen öffentlichen Aufruf machen, der vom zuständigen Gericht zur Kenntnis genommen und von den Anwälten des Folteropfers allenfalls auch in der Berufungsschrift verwendet werden kann. Aufgrund der mir bekannten Fakten gehe ich davon aus, dass das Bundesstrafgericht die Glaubwürdigkeit der Foltervorwürfe anerkennen wird.
Sie denken also, dass die Frau nicht an Spanien ausgeliefert wird.
Das wird sich die Schweiz kaum leisten können, denn der Fall würde fast sicher an Strassburg weitergezogen. Möglicherweise wollten unsere Regierungsbehörden die «heisse Kartoffel» ja einfach lieber dem Bundesstrafgericht weiterreichen, um die befreundete spanische Regierung nicht brüskieren zu müssen. Der Entscheid käme ja dann von einer von der Regierung unabhängigen Gerichtsinstanz. Trotzdem wird Frau Txapartegi aber bis zum Urteil in Haft gehalten, getrennt von ihrer kleinen Tochter, welche offenbar auch noch schwer krank sein soll. Falls es unserer Regierung hier wirklich nur darum geht, sich nicht direkt mit Spanien anlegen zu müssen, kostet dieses Manöver Frau Txapartegi möglicherweise völlig unnötig mehr als ein Jahr ihres Lebens im Gefängnis, mit traumatisierenden Konsequenzen für alle Betroffenen. Das wäre dann aussenpolitische Leisetreterei, und zwar ganz bewusst auf Kosten der Menschenrechte einer bestimmten Person – etwas, was ich der Schweiz bis anhin nicht zugetraut hätte.
Woraus besteht Ihre Arbeit genau?
Mein Büro beim Hochkommissariat für Menschenrechte erhält jeden Tag 10 bis 15 Interventionsgesuche von individuellen Opfern. Meine Mitarbeiterin muss diese dann konsolidieren und leitet täglich zwei bis drei Fälle an mich weiter, bei denen ich entscheiden muss, ob ich interveniere oder nicht. Zwei- bis dreimal pro Jahr führe ich Länderbesuche durch, um die Einhaltung des Folterverbots in bestimmten Ländern zu überprüfen. Zudem werde ich ständig zu Konferenzen und Expertenseminaren eingeladen, kann das Meiste aber aus zeitlichen Gründen gar nicht wahrnehmen. Zweimal jährlich muss ich dann offiziell Bericht erstatten zu meinen Tätigkeiten sowie zu frei gewählten Themenbereichen, welche ich dem UNO-Menschenrechtsrat und der UNO-Generalversammlung zur Kenntnis bringen möchte, meist verbunden mit Empfehlungen an die Staatengemeinschaft.
Sie erhalten von der UNO kein Salär, und Ihr Gesuch um Finanzierung durch die Schweiz wurde abgelehnt (das BT berichtete). Hat sich diese Situation inzwischen geändert?
Die Schweiz unterstützt mein Mandat substanziell, jedoch nicht genügend, um meine Handlungsfähigkeit als Sonderberichterstatter sicherzustellen. Das ist im internationalen Vergleich fast einzigartig. Wenn die Schweiz sagt, sie habe dafür keine Ressourcen, so ist dies aus meiner Sicht nicht glaubwürdig. Denn einerseits spart das EDA nicht nur die Lohnkosten für meine Stelle ein, welche ich im Hinblick auf die Mandatsübernahme freiwillig aufgegeben habe, sondern es kann gleichzeitig offenbar auch problemlos 70 neue unbefristete Stellen zum Thema Terrorismusbekämpfung schaffen. Immerhin hat sich die Schweiz inzwischen wieder bereit erklärt, die zuvor aufgehobene Finanzierung einer Mitarbeiterin wieder zu gewähren. Hierfür bin ich sehr dankbar. In erster Linie wird es aber den Folteropfern zugute kommen, wenn ich die Zahl meiner Interventionen wieder steigern kann.
Die Schweiz argumentierte, die Unabhängigkeit Ihres Mandats verbiete eine vollständige Finanzierung durch die Eidgenossenschaft. Dieses Argument hat sich mit ihrer Intervention im Fall Txapartegi ja jetzt bewahrheitet.
Überhaupt nicht. Formell gilt gemäss den Richtlinien der UNO, dass Sonderberichterstatter sogar direkt von ihrem Ursprungsstaat angestellt bleiben und ihren ganzen Lohn vom diesem beziehen dürfen, solange der Staat ihre Unabhängigkeit respektiert. Ausgeschlossen sind einzig hohe Regierungspositionen mit Entscheidungsfunktion. Das war bei mir als sicherheitspolitischer Berater nicht der Fall. Es war also die Schweiz, und nicht die UNO, welche im Hinblick auf meine Mandatsübernahme die Aufhebung meiner Anstellung wünschte. Überdies gibt es sowohl in der Schweiz und im Ausland Tausende von offiziellen Funktionen, welche Unabhängigkeit von der Regierung erfordern, und die trotzdem vollständig vom Staat bezahlt werden, etwa Richter und Ombudsleute. Bei Sonderberichterstattern wird üblicherweise eine Universität dazwischengeschaltet, welche zusätzlich die akademische Freiheit garantieren kann. Und das tut die Schweiz ja auch in meinem Fall, nur dass die Finanzierung bei weitem nicht genügt, um meine Handlungsfähigkeit sicherzustellen. Auch das Unabhängigkeitsargument verfängt also nicht. Würde meine Finanzierung aufgestockt, wäre ich nicht abhängiger, sondern unabhängiger und könnte mein Mandat viel produktiver und wirkungsvoller an die Hand nehmen, anstatt ständig um finanzielle und personelle Ressourcen zu kämpfen. Warum das von der offiziellen Schweiz offenbar nicht gewollt ist, kann ich mir bis heute nicht erklären.
Weltweit mediale Aufmerksamkeit erhielten Sie, als Sie Donald Trump kritisierten, nachdem sich dieser positiv über Waterboarding äusserte. Direkt an ihn herangekommen sind Sie aber nicht.
Ich habe Präsident Trump zwar einen konstruktiven Dialog angeboten, habe aber nicht insistiert. Auf offiziellem Weg könnte ich direkt an den Aussenminister gelangen, aber man muss sich immer gut überlegen, ob man gleich das ganze Pulver verschiessen will. Trump hat ein schlechtes Statement gemacht, aber er hat das Waterboarding nicht wieder eingeführt. Interessant ist, dass er seine Aussage seit meiner öffentlichen Kritik nicht mehr wiederholt hat. Meinen Einfluss sollte man weder unter- noch überschätzen. Es ist klar: Wenn Trump Waterboarding wieder einführen will, dann tut er das, und ich kann es nicht verhindern. Ich konnte aber öffentlichkeitswirksam Argumente aufzeigen, die ihm eine weitere Trivialisierung der Folter erschweren, indem ich sagte: Auch Genozid, Sklaverei oder chemische Waffen funktionieren. Trotzdem ist sich die gesamte internationale Gemeinschaft einig, dass diese Methoden absolut und unter allen Umständen verboten sind.
Wie genau wird Folter definiert?
Es gibt verschiedene vertragliche und gewohnheitsrechtliche Definitionen. Heute sind Foltermethoden sehr viel weiter entwickelt als noch im Mittelalter. Letztlich geht es aber immer darum, den Willen der Menschen zu brechen, damit sie machen, was man will, oder aber um Strafe, Einschüchterung oder Abschreckung.
Folter funktioniert also auch ohne körperliche Gewalt?
Absolut. Es gibt sehr perfide psychologische Foltermethoden. Sehr häufig wird auch einfach damit gedroht, es werde einem Familienmitglied etwas angetan, wenn man nicht aussage.
Können Sie ein Beispiel nennen, bei dem Ihre Intervention etwas bewirkt hat?
Im Januar ging es um eine Auslieferung von Frankreich nach Russland, welche von Frankreichs früherem Premierminister Manuel Valls persönlich bewilligt worden war. Allerdings gab es in der Vergangenheit glaubwürdige Hinweise, dass Russland ausgelieferte Menschen an andere Länder weitergereicht hat. Konkret wäre das Kasachstan gewesen, wo der Betroffene offenbar bereits gefoltert worden war. Ich lancierte daher eine Medienmitteilung, welche bei der nachfolgenden Aufhebung des Auslieferungsentscheides durch den Conseil d’État offenbar eine Rolle spielte .
Gab es auch Fälle, bei denen Sie erfolglos waren?
Ja, leider ist das immer noch die Mehrheit der Fälle. Ende April wollte zum Beispiel der US-Bundesstaat Arkansas acht Menschen mittels Giftspritze hinrichten lassen, weil die Haltbarkeit des dafür verwendeten Gifts am Ende des Monats auslief und die das Gift produzierende Firma sich weigerte, dieses weiterhin zum Zweck von Hinrichtungen an die Regierung zu verkaufen. Trotz unserer Intervention wurden letztlich vier Personen «fristgerecht» hingerichtet.
Wie kommen die Folteropfer überhaupt an Sie heran? In gewissen Ländern hat man ja keine Chance für Aussenkontakt, wenn man im Gefängnis sitzt.
Das stimmt. Aber fast alle Personen haben eine Familie oder Freunde, die sich an mich wenden können, oder ich werde von Anwälten oder Nichtregierungsorganisationen kontaktiert. Freiheitsentzug ohne Kontakt zur Aussenwelt – sogenannte «incommunicado»-Haft – ist tatsächlich ein grosses Problem, denn die Gefahr für Misshandlungen ist sehr gross.
Wie ist das mit einem Land wie Nordkorea: Kommen Sie da überhaupt ran?
Das ist eines jener Länder, wo meine Aussichten auf einen Besuch nicht realistisch sein dürften. Kürzlich konnte eine Kollegin von mir, die Sonderberichterstatterin für die Rechte von Behinderten, das Land zwar als erste in einer solchen Funktion besuchen. Allerdings ist das ein politisch ungleich weniger delikates Thema als Folter. Mich lädt kein Land gerne ein, denn jeder Staat hat seine Schwachstellen bei der Einhaltung des Folterverbotes. Wenn ich einen Länderbesuch beantrage, sagt man mir deshalb oft: «Sie sind selbstverständlich herzlich willkommen in unserem Land. Aber die nächsten drei Jahre haben wir leider gerade keine Zeit.»
Was war der Grund, dass Sie als Jura-Absolvent für das Internationale Komitee vom Roten Kreuz in den Kosovokrieg gegangen sind?
Eine Karriere als Anwalt oder Richter hier in der Schweiz hätte mein Berufsleben sehr vorausschaubar gemacht. Ich wollte mich mit etwas Chaotischerem befassen als der Schweizer Rechtsordnung. Während meines Studiums haben die Kriegsverbrechertribunale nach dem Jugoslawienkrieg stattgefunden. Ich wollte selber erfahren, was so ein Konflikt in der Realität bedeutet und wie die Menschlichkeit in einer solchen Situation aufrecht erhalten werden kann. Im Krieg bricht die ganze Rechtsordnung ein, und das Kriegsvölkerrecht stellt dann den letzten Rettungsanker dar.
Waren Sie reellen Gefahren ausgesetzt?
In den zwölf Jahren beim IKRK kam ich sicher drei oder vier Mal in eine brenzlige Situation. Krieg bedeutet ja nicht, dass ständig immer geschossen wird. Wirklich gefährlich im Krieg ist der Zusammenbruch der Rechtsordnung und des sozialen Netzwerks. Nichts gilt mehr, nichts funktioniert mehr. Dann taucht die Kriminalität und die Selbsthilfe auf und nimmt überhand. Sehr gefährlich sind etwa die Checkpoints. Da passieren oft Terroranschläge und Geiselnahmen, oder man trifft auf betrunkene Soldaten. Ich habe auch schon Missverständnisse mit Soldaten erlebt, die deswegen Warnschüsse in meine Richtung abgegeben haben.
Wie kann man bei all dem Grauen die eigene Menschlichkeit bewahren?
Es geht nur so, sonst wird man zur Maschine und kann die Arbeit nicht mehr machen. Menschlichkeit muss ich allen gegenüber zeigen, nicht nur den Folteropfern. Ich konnte nach 9/11 im Gefängnis einmal sogar mit islamischen Extremisten ein Gespräch führen. Erst wollten sie mich gar nicht in ihre Zelle lassen. Danach wollten sie mich bekehren. Ich hörte zu und sagte anschliessend, dass wir zwar verschiedenen Religionen angehören, aber letztlich an den gleichen Gott glauben. So fanden wir eine gemeinsame Basis für das nachfolgende Gespräch. Es geht immer um den menschlichen Aspekt.
Können Sie gut schlafen?
Ich habe keine Albträume. Wenn ich aber mitten in einem Einsatz bin oder mich mit einem besonders tragischen Fall zu befassen habe, braucht die Verarbeitung jeweils ihre Zeit. Der Kontrast, den Sie am Anfang unseres Gesprächs angesprochen haben, ist für mich daher sehr wichtig. Wenn ich hier in Leubringen aufwache und morgens die friedliche Erhabenheit der Berge über dem Nebelmeer anschaue, fühle ich mich so beschenkt und bin extrem dankbar dafür.
–
Zur Person
47 Jahre alt
Studium und Doktorat der Rechtswissenschaften in Zürich.
Arbeitete zwölf Jahre lang für das Internationale Komitee vom Roten Kreuz, drei Jahre in Kriegs- und Krisengebieten und neun Jahre als Rechtsberater in Genf.
2015-2016: Sicherheitspolitischer Berater beim Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA).
Seit November 2016 UNO-Sonderberichterstatter für Folter.
Seit April 2017: Professor für Völkerrecht an der Universität Glasgow.
Wohnt mit seiner Frau und den beiden Töchtern (4 und 7) in Leubringen. ab