Das Staatssekretariat für Migration (SEM) ignoriert im Fall Nekane Txapartegi die frauenspezifische Dimension von Gewalt sowie unbestrittene psychotraumatologische Erkenntnisse. TERRE DES FEMMES Schweiz kritisiert die Missachtung geschlechts-spezifischer Fluchtgründe und fordert die Revision des Asylentscheids durch das Bundesverwaltungsgericht.
Eine grosse Hürde bei frauenspezifischen Fluchtgründen ist die Prüfung der sogenannten «Glaubwürdigkeit» durch die Asylbehörden in der Anhörung zu den Fluchtgründen. Es ist für Betroffene von Folter enorm schwierig, über das Erlebte zu sprechen. Besonders wenn es sich um extreme Formen geschlechtsspezifischer Gewalt wie Vergewaltigungen und psychische Erniedrigungen handelt. Denn diese zielen in den Kern körperlicher Integrität und menschlicher Würde. Die Grundvoraussetzung, um trotz Traumatisierungen, Tabus und Stigmata in der Asylanhörung über sexualisierte Gewalt Auskunft geben zu können, ist ein sicheres, vertrauensvolles, empathisches Verhältnis mit den Befragenden. Dabei ist es von zentraler Bedeutung, dass die Befragenden gleichen Geschlechts und versiert in traumasensibler Gesprächsführung sind. Der negative Asylentscheid des SEM zeigt exemplarisch, dass die Ausgestaltung des Asylverfahrens den Opfern frauenspezifischer Gewalt nicht gerecht wird.Glaubwürdigkeitsprüfung bei Traumatisierung
Häufige Folgen sexualisierter Gewalt und Folter sind posttraumatische Belastungssörungen. Diese erschweren das Erfüllen der Anforderungen, die das SEM bei der Glaubwürdigkeitsprüfung im Asylverfahren stellt, erheblich. Der Grund dafür liegt in den Indikatoren, die für die Bundesbehörden bei der Abklärung der Glaubwürdigkeit ausschlaggebend sind. Von Asylsuchenden wird erwartet, dass sie das Erlebte «auf Knopfdruck», chronologisch und aus Sicht der Befragenden logisch-stringent und widerspruchsfrei wiedergeben. Diese Indikatoren laufen psychotraumatologischen Erkenntnissen diametral entgegen. Traumatisierte Gewaltbetroffene leiden oft unter Gedächtnislücken und haben Erinnerungen verdrängt oder verwechseln zeitliche Abfolgen und andere Informationen. Ebenso ist es üblich, dass gewisse Erinnerungen bei traumatisierten Personen erst nach längerer Zeit zurückkehren und sich Aussagen in der Folge verändern oder präzisieren. Werden die Aussagen, Handlungen und Asylvorbringen der Gewaltbetroffenen im Asylverfahren nach Logik und Stringenz beurteilt, müssen die potentiellen Auswirkungen von Traumatisierungen miteinbezogen werden. Dies ist im Fall von Nekane Txapartegi nicht geschehen.Vorwurf verspäteter Klage
Das SEM lastet der Asylsuchenden Nekane Txapartegi an, während der Incommunicado-Haft keine Foltervorwürfe gegenüber Vertreter_innen des spanischen Staates geäussert zu haben. Nebst den o.g. Erkenntnissen zum Verhalten von traumatisierten Gewaltopfern stand Nekane Txapartegi zu diesem Zeitpunkt ausschliesslich die Ansprache von Repräsentant_innen der spanischen Polizei, des Gefängnis’ und des Gerichts zur Verfügung. Zwecks Beweissicherung wäre jedoch eine rasche medizinische Untersuchung durch weibliche und von den Tatpersonen unabhängige Fachpersonen erforderlich gewesen. Das SEM macht also Nekane Txapartegi zum Vorwurf, sie habe es versäumt, die Täter direkt mit deren Tat zu konfrontieren — eine Forderung, die aus psychologischer Sicht an kein Opfer gestellt werden kann. Angesichts dieser Umstände sowie der Tatsache, dass viele von sexualisierter Gewalt betroffene Frauen gar nie oder erst Jahre später über das Erlebte sprechen können, ist die Klage von Nekane Txapartegi drei Monate nach den Vorfällen nicht als «spät» zu werten.
Forderung: Revision des Asylentscheids
Überlebende von sexualisierter Gewalt können in der aktuellen Asylpraxis ihre frauenspezifischen Fluchtgründe im Asylverfahren kaum geltend machen. Dies gilt auch für Nekane Txapartegi. Weiter wurden grundlegende wissenschaftliche Erkenntnisse zu Traumatisierung bei der Glaubwürdigkeitsprüfung missachtet: Anforderungen wie Lückenlosigkeit, Kohärenz, Chronologie, Plausibilität und objektive Nachvollziehbarkeit sind bei postraumatischen Belastungsstörungen nicht erfüllbar. Im Fall von Nekane Txapartegi wurden weder die Traumatisierungen noch die Umstände zur Zeit der sexualisierten Folterungen bei der Beurteilung der Glaubwürdigkeit miteinbezogen. TERRE DES FEMMES Schweiz fordert das Bundesverwaltungsgericht deshalb auf, den Entscheid des SEM zu revidieren und die Asylvorbringen von Nekane Txapartegi anzuerkennen. Weiter fordert TERRE DES FEMMES Schweiz ein faires Asylverfahren in der Schweiz, das Betroffenen von sexualisierter Gewalt adäquat begegnet und Traumatisierungen von Frauenflüchtlingen bei der Beurteilung Rechnung trägt. Dies bedingt spezialisierte Fachpersonen im SEM, welche entsprechend aus- und weitergebildet werden.
Bei frauenspezifischen Fluchtgründen sind die Verfolgungsart (z.B. sexualisierte Folter) und/oder das Verfolgungsmotiv (z.B. ehrbezogene Gewalt) geschlechtsspezifisch ausgeprägt. Seit 1998 sind frauen-spezifische Fluchtgründe im Schweizerischen Asylgesetz verankert: «Den frauenspezifischen Fluchtgründen ist Rechnung zu tragen» (Art. 3 Abs. 2 AsylG).
–> Details [2] Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)
Psychische Erkrankung, die durch ein oder mehrere belastende Ereignisse von aussergewöhnlichem Umfang oder katastrophalem Ausmass ausgelöst wird (psychisches Trauma). Typische Auswirkungen sind Gedächtnisverlust, Verwirrung und Konzentrations-schwierigkeiten. In Stresssituationen verwickeln sich Betroffene vielfach in Widersprüche.
–> Details[3] Studie: Frauen im Asylverfahren
Die Studie aus dem Jahr 2011 kommt zum Schluss, dass frauenspezifischen Fluchtgründen im Verfahren nicht genügend Rechnung getragen wird und dass sie nicht immer als Asylgrund anerkannt werden. Für asylsuchende Frauen besteht die grösste Hürde in der Glaubwürdigkeit. Zudem wird allzu oft angenommen, den Frauen käme in ihren Herkunftsländern staatlicher Schutz zu.
–> Details
[4] CEDAW-Schattenbericht 2016
Der Bericht zuhanden des UNO-Ausschuss’ gegen Frauendiskriminierung kommt zu folgenden Schlüssen:
- Frauenspezifische Fluchtgründe werden in den Asylverfahren nicht oder nur ungenügend gewürdigt.
- Verschärfungen im Asylgesetz bringen weitere Hürden für Frauen mit posttraumatischen Belastungsstörungen mit sich.
- In der Unterbringung der Asylsuchenden fehlen grundlegende gendersensible Massnahmen.
[5] Fachbericht: Frauen-Flucht-Asyl
Der Fachbericht der Schweizerischen Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht SBAA zeigt auf, welchen Hürden sich Frauen und Mädchen auf der Flucht und im schweizerischen Asylverfahren stellen müssen. Ihre Fluchtgeschichten werden oft als «nicht glaubhaft» bewertet, Ungenauigkeiten, Widersprüche und Ungesagtes werden nicht als Ausdruck der Traumatisierung anerkannt, sondern als Unwahrheiten abgetan.
–> Details
Obwohl sie aufgrund der erfahrenen Gewalt unter posttraumatischer Belastungsstörung leidet, erwartet das SEM lückenlose Chronologie und Kohärenz in den Schilderungen. Diese Anforderungen sind aus psychotraumatologischer Sicht nicht zu erfüllen, denn Traumata wirken sich negativ auf die Aussagefähigkeit und das Erinnerungs-vermögen der Betroffenen aus [2]. Der Fall Nekane Txapartegi reiht sich damit in eine Schweizer Asylentscheidpraxis ein, welche den Möglichkeiten und Realitäten von asylsuchenden Frauen nicht gerecht wird. Dadurch entstehen systematische Hürden: Geschlechtsspezifische Fluchtgründe können nicht in der erforderlichen Form vorgebracht werden und werden in der Folge auch nicht anerkannt. Dies dokumentieren Fallgutachten [3] und Berichte [4] von TERRE DES FEMMES Schweiz sowie der Schweizerischen Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerfragen [5] ausführlich.
Kontakt:
Simone Eggler, Expertin für geschlechtsspezifische Gewalt
E-Mail: s_eggler@terre-des-femmes.ch
Telefon: +4179 741 53 48
Weiterführende Informationen
http://www.terre-des-femmes.ch/de/35-d/stellungnahmen/502-2017-stellungnahme-nekane