Doppelpunkt: IST FOLTER WIEDER SALONFÄHIG?

Die Schweiz will eine in Spanien gefolterte Baskin ausliefern. Sie soll die Terrororganisation ETA unterstützt haben. Terrorismusvorwurf und Folter – ein Gespann, das einem auch in Europa immer häufiger begegnet. Patrick Walder von Amnesty International nimmt Stellung. (Doppelpunkt, Interview: Judith Hochstrasser, 18.05.2017)

Patrick Walder, der Fall der in der Schweiz inhaftierten Baskin Nekane Txapartegi (siehe Kasten) beschäftigt derzeit unsere Justiz. Sie soll an Spanien ausgeliefert werden, nun läuft ein Rekurs. Es gibt plausible Beweise, dass sie in Spanien in den Neunzigerjahren gefoltert wurde.

Es hat in den letzten Jahren immer wieder Folterfälle in Spanien gegeben. Zum Beispiel wurden im Oktober 2011 zwei städtische Polizeibeamte vom Provinzgericht Barcelona wegen der Folter eines Studenten aus Trinidad und Tobago zu 27 Monaten Gefängnis verurteilt.

In welchen Ländern Europas wird noch gefoltert?

Grundsätzlich ist kein Land vor Folter und Misshandlung gefeit. Vielleicht hat man ein wenig mittelalterliche Vorstellungen davon, was Folter ist, und nur diese Formen werden dann als Folter betrachtet. Aber: Was Folter ist, muss im konkreten Einzelfall beurteilt werden, letztlich von einem Gericht. Auch die Schweiz ist vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte schon wegen Folter verurteilt worden, allerdings nur ein einziges Mal. Es ging um exzessive Gewaltanwendung bei der Verhaftung eines Mannes aus Burkina Faso durch zwei Genfer Polizisten.

Schon wieder Polizisten.

Die Machtausübung des Staates bei Verhaftung und Verhör führt oft zu kritischen Momenten. Es braucht deswegen Schutzmassnahmen auf allen Ebenen. Die EU hat im internationalen Vergleich viel gemacht. Die Schweiz ist sicher kein Folterland, aber bei den Schutzmassnahmen könnte sie noch einiges verbessern.

Zum Beispiel?

Bis heute fehlt der explizite Straftatbestand Folter im Strafgesetzbuch. Ausserdem ist hierzulande der internationale, von der Uno anerkannte Standard für Untersuchungen von Folteropfern, das sogenannte Istanbul-Protokoll, so gut wie unbekannt. Es wird weder den Ärzten an den Universitäten gelehrt, noch ist es Standard bei den ärztlichen Untersuchungen oder Befragungen von Asylsuchenden.

Wo sollte man in der Schweiz sonst noch genauer hinschauen?

Die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter hat verschiedene Bereiche genau beleuchtet, zum Beispiel die langen Isolationshaften. Immer wieder sind zudem die Zwangsmassnahmen bei Ausschaffungen ein Thema oder die Überbelegungen von Haftanstalten. Das ist vielleicht nicht das, was sich viele unter Folter vorstellen, aber das sind alles Bereiche, die unter das Verbot von Folter und Misshandlung gemäss Uno fallen können.

Gibt es in Europa Länder, die besonders häufig wegen Folter verurteilt werden?

Solche Rankings sind nicht sinnvoll. Jedes Land hat seine Verantwortung. Amnesty hat 2014 eine Übersicht über Folter veröffentlicht, bewusst ohne Liste. Wir sagen, wir haben Folter in 141 Ländern dokumentiert, aber wir sagen nicht, wo nicht. Das wäre sonst wie eine Reinwaschung mancher Länder.

Sie können also keinem Land eine weisse Weste geben?

Genau, letztlich können wir nur sagen, wo wir Fälle dokumentieren konnten. Und das kann nie vollständig sein.

Trotzdem, mal theoretisch: Ist Folter in ehemals totalitären Staaten wie zum Beispiel Spanien üblicher?

Es ist eine plausible Theorie, dass in Ländern, die Konflikte und Diktaturen erlebt haben und in denen diese nicht grundlegend aufgearbeitet wurden, Strukturen und die Philosophie von Gewalt weiterbestehen. Hat Spanien die Zeit der Franco-Diktatur aufgearbeitet? Nein! Spanien kennt noch die sogenannte Incommunicado-Haft; das bedeutet, dass manche Leute nach der Inhaftierung eine bestimmte Zeit zu niemandem Kontakt aufnehmen können. Es ist klar: Wenn man jemanden tagelang ohne Kontakt zur Aussenwelt einsperrt, ist das Risiko gross, dass in dieser Zeit Druck ausgeübt wird und dann allfällige Spuren verwischt werden. Ein Problem in Europa sind aber auch die Sicherheitsmassnahmen, die sich diskriminierend gegen Minderheiten wie Muslime wenden. Im Bereich der Terrorbekämpfung werden oft Rechte verletzt.

Wird Folter wieder salonfähig?

Ich bin überzeugt, dass seit 9/11 und dem folgenden sogenannten Krieg gegen den Terror eine Banalisierung von Folter stattgefunden hat. Die ganze Rhetorik damals, die Schwarz-Weiss-Malerei, hat Folter als quasi notwendig dargestellt. Zuvor gab es eine Art Grundkonsens, dass Folter verwerflich ist.

Diese Banalisierung geht noch immer weiter?

Ja. Ich war während der George-Bush-Jahre acht Jahre lang für das Internationale Rote Kreuz tätig und habe in mehreren Ländern Gefängnisbesuche gemacht. Es gab kaum ein Gefängnis, in dem ich nicht Hinweise auf Folter fand. Aber wenn man dies mit den örtlichen Behörden diskutierte, sagten sie oft: Wenn sogar die Amerikaner foltern, warum können wir das dann nicht auch tun? Und zu Recht haben sie auf eine Doppelmoral hingewiesen. Zudem glaube ich, dass in der momentanen politischen Konstellation die Gefahr für Folter gross ist. Eine wichtige Grundvoraussetzung dafür ist Diskriminierung. Man stellt Terroristen heute oft als Nicht-Menschen dar und berechtigt sich so selbst, diese zu foltern.

Glossar

Das Istanbul-Protokoll wurde in den Neunzigerjahren auf Initiative der türkischen Ärztekammer, der Menschenrechtsstiftung der Türkei und der «Physicians for Human Rights» erstellt und 1999 veröffentlicht. Erarbeitet wurde der Text von Gerichtsmedizinern, Ärzten, Psychologen, Menschenrechtsbeobachtern und Rechtsanwälten. An der Entstehung waren über 75 Experten von mehr als 40 Organisationen aus 15 Ländern beteiligt. Am 4. Dezember 2000 wurde es von der Uno-Generalversammlung angenommen.

Der Artikel 5 «Verbot der Folter» aus der «Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte» der Uno aus dem Jahr 1948 lautet: «Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden».

Personen, die in Spanien «terroristischer Aktivitäten» verdächtigt werden, können während der ersten fünf Tage ihrer Gefangenschaft in strenger Isolationshaft, in «Incommunicado-Haft», gehalten werden. Dabei wird der Kontakt zu jeglichen aussenstehenden Personen – insbesondere einem eigenen Anwalt sowie einem unabhängigen Arzt – verweigert, auch Angehörige können nicht benachrichtigt werden.

Der Fall Nekane Txapartegi

Nekane Txapartegi sitzt derzeit in Zürich in Haft. Die Stadträtin aus der baskischen Kleinstadt Asteasu war 1999 von der spanischen Guardia Civil entführt worden und war ihr während einer fünftägigen Kontaktsperre (Incommunicado-Haft) ausgeliefert. Sie soll in dieser Zeit gefoltert und sexuell misshandelt worden sein. Aufgrund des 1999 erwirkten Geständnisses wurde sie von der spanischen Justiz 2007 zu sechs Jahren und neun Monaten Haft wegen «Unterstützung» der Terrorgruppe ETA verurteilt. Darauf ist sie in die Schweiz geflohen, wo sie im April 2016 verhaftet wurde. Das Bundesamt für Justiz hat vor Kurzem entschieden, Nekane Txapartegi an Spanien auszuliefern. Dies wird unter anderem von Amnesty International, Augenauf und Humanrights scharf kritisiert, insbesondere weil zwei Expertisen nach den von der Uno anerkannten Standards des Istanbul-Protokolls belegt haben, dass die Foltervorwürfe als glaubwürdig einzustufen sind.

Quellen: humanrights.ch und freenekane.ch