Die baskische Aktivistin hat eine Odyssee durch spanische und schweizerische Gefängnisse hinter sich. Zurzeit lebt sie in Zürich – als freie Frau. Nun droht ihr die erneute Auslieferung. VICE hat mit ihr gesprochen.
von Miriam Suter
Fast 17 Monate lang sass die baskische Polit-Aktivistin Nekane Txapartegi in der Schweiz in Auslieferungshaft, bevor sie überraschend freikam. Zwei Jahre ist das nun her. Der spanische Staat warf Txapartegi damals vor, mit der baskischen Unabhängigkeitsbewegung Euskadi Ta Askatasuna (ETA) kooperiert zu haben – der Vorwurf lautete zuerst Mitgliedschaft, wurde im Rekurs des Urteils aber abgeschwächt. Die ETA gründete sich 1959 unter der Franco-Diktatur. Im Mai 2018 löste sich die ETA auf.
1999 sass Txapartegi fünf Tage in Spanien in Incommunicado-Haft mit absoluter Kontaktsperre, laut eigenen Angaben wurde sie dort gefoltert und vergewaltigt – und so zu einem Geständnis gezwungen. Txapartegis Anwälte haben 2017 ein Gutachten von zwei Experten beim Bundesamt für Justiz eingereicht, die die Foltervorwürfe unterstützen: Prof. Dr. Thomas Wenzel, Psychiater in Wien, Herausgeber mehrerer Handbücher zum Istanbul-Protokoll und Ausbildungsexperte in mehreren EU-Staaten und Dr. Önder Özkalipci, türkischer Rechtsmediziner und Co-Autor des Istanbul-Protokolls anerkennen beide in ihren Berichten die Folter an Txapartegi.
Zudem hat sich der UNO-Sonderberichterstatter für Folter, Nils Melzer, 2017 an die Schweiz gewendet. Die Schweiz dürfe Txapartegi nicht an Spanien ausliefern, weil sie damit ein spanisches Gerichtsurteil anerkennen würde, das auf Aussagen basiert, die möglicherweise durch Folter erzwungen wurden. Nur durch die Nichtauslieferung könne die Schweiz das absolute Folterverbot respektieren. Es gibt eine sehr klare Positionierung des UNO-Sonderberichterstatter für Folter, und auch der Weltorganisation gegen Folter (OMCT). Auch die beiden höchsten Schweizer Gerichte, das Bundesgericht sowie das Bundesverfassungsgericht erachten die Foltervorwürfe als glaubhaft.
Aufgrund dieses Geständnisses verurteilen sie die spanischen Behörden 2007 zu einer elfjährigen Haftstrafe, woraufhin Txapartegi aus Spanien in die Schweiz flüchtete. Spanien stellte jedoch einen Auslieferungsantrag worauf Txapartegi 2016 in Zürich verhaftet wurde, woraufhin sich die Solidaritätsbewegung “Free Nekane” formierte und durch Aktionen Druck auf Politik und Justiz ausübte.
Das eidgenössische Justizdepartement hatte im März 2017 die Ausschaffung zuerst bewilligt, 2017 zog Spanien das Auslieferungsgesuch an die Schweiz zurück – wohl auch aufgrund der hohen öffentlichen Solidarität.
Txapartegi lebt weiterhin in der Schweiz und hat in ihrer Zeit in Freiheit nicht geruht: Sie arbeitet heute beim alternativen Zürcher Radiosender LoRa und stellte 2018 ihre Zeichnungen und Gedichte aus, die sie während ihrer Haft gefertigt hat
Doch nun hat Spanien ein neues Verfahren gegen Txapartegi eingeleitet und dafür angekündigt, einen neuen Auslieferungsantrag an die Schweiz zu stellen. Gibt die Schweizer Justiz dem statt, droht Txapartegi eine erneute Verhaftung. Txapartegi könnte rekurrieren, und den Fall bis vor internationale Gerichte weiterziehen. Es ist noch offen, wie sich die Schweiz zum spanischen Rechtshilfegesuch positionieren wird. Internationale Gerichte haben Spanien schon mehrfach wegen Folter verurteilt.
Wir treffen Nekane an ihrem Arbeitsort beim Radio LoRa in Zürich.
VICE: Deine Haftstrafe in Spanien ist verjährt, warum will der spanische Staat eine neue Anhörung?
Nekane:
Bei einer politischen Verfolgung geht es nicht um konkrete Taten,
sondern um meine Gesinnung. Darum rollen sie den Fall jetzt nochmal auf.
Wie meinst du das?
Meine
Haftstrafe, die ursprünglich elf Jahre betrug, basiert auf einem
Geständnis, das ich 1999 unter schlimmster Folter abgelegt habe. Im
späteren Verlauf der juristischen Prozesse wurden daraus sechs Jahre und
meine Anwälte haben es schliesslich geschafft, das Urteil nochmal auf
die Hälfte, also auf drei Jahre, runterzukriegen. Für mich ist das schon
Beweis genug, dass es sich um ein politisches Urteil handelt, nicht um
ein strafrechtliches: Wie kann es sein, dass du in einem Prozess zuerst
zu elf Jahren verurteilt wirst und dann sind es plötzlich drei?
Es passt dem spanischen Staat nicht, dass ich mich gegen das System wehre, indem ich nicht mit ihnen kooperiere. Als Frau wurde ich ausserdem doppelt bestraft: Ich habe nicht die Rolle akzeptiert, die dieses patriarchale System für mich vorgesehen hat. Die politische Repression der Frauen hat ein sexistisches Gesicht.
Die spanischen
Behörden drohen dir mit einem neuen Haftbefehl. Du warst am 22. Mai bei
der Bundesanwaltschaft in Bern vorgeladen, um via Videokonferenz vom
spanischen Sondergericht Audiencia Nacional verhört zu werden – du hast
die Befragung aber abgelehnt. Wieso?
Ja. Auch dieses neue
Strafverfahren basiert auf Aussagen, die ich damals unter Folter gemacht
habe. Ich habe der Schweizer Staatsanwaltschaft darum gesagt, dass ich
nicht an einem Verfahren teilnehme, das sich auf unter Folter
erzwungenen Aussagen stützt.
Wie haben die spanischen Behörden reagiert?
Die
haben sofort einen neuen Haftbefehl in Auftrag gegeben. Für mich ist
das klassisches Racheverhalten seitens des Sondergerichts.
Warum?
Die
Audiencia Nacional basiert noch immer auf Strukturen aus dem
Franco-Regime: Ihr Ziel ist die politische Verfolgung – das war 1999
schon so und geht jetzt weiter. Die Untersuchungsrichterin ist eine
ehemalige Gewählte vom Partido Popular [konservativ-christliche spanische Volkspartei, Anm. d. Red.]
Im September 2017 wurdest du unerwartet aus der Haft im
Bezirksgefängnis Zürich entlassen, weil ein spanisches Gericht die
Haftstrafe für verjährt erklärt hat.
Ich denke auch heute noch,
dass sich sowohl Spanien als auch die Schweiz damals durch die grosse
Solidarität dazu gezwungen sahen, eine juristische Lösung zu finden –
die aber eigentlich eine politische Lösung ist. Dass der spanische Staat
aber nicht locker lassen würde, war mir schon klar.
Was genau ist denn der neue Vorwurf an dich?
Dass
ich falsche Papiere bei mir hatte, als ich 2016 in der Schweiz
verhaftet wurde. Die Anklage an sich ist aber immer noch die gleiche:
Dass ich Mitglied der ETA war. Durch die neue Komponente mit den
falschen Papieren sieht der spanische Staat einfach eine Möglichkeit,
den Fall nochmals aufzurollen.
Die Festnahme mit den falschen Papieren geschah aber in der Schweiz, nicht in Spanien
Darum
ergibt diese neue Anhörung auch keinen Sinn. Natürlich hatte ich
falsche Pässe, als ich 2007 auf der Flucht war. Ich hatte Angst, wieder
gefoltert zu werden, und bin geflüchtet. Auch deshalb, weil ich meiner
Tochter eine gute Zukunft ermöglichen will. Dass es während der Haft in
Spanien Folter gibt, wird immer wieder von internationalen Gerichten
anerkannt. Erst kürzlich gab es wieder einen Fall von einem Basken, der
2007 gefoltert wurde, das Jahr, in dem ich aus Spanien floh – das hat
die UNO in einem Urteil bestätigt.
Dennoch hat die Schweiz
bei deiner Freilassung 2017 keine Stellung zum Foltervorwurf bezogen und
das Bundesamt für Justiz hat nun das erneute Rechtshilfegesuch der
spanischen Behörden anerkannt.
Das ist für mich noch immer der
zentrale Punkt. Dass es im Mai nochmals eine Anhörung hätte geben sollen
durch den spanischen Staat ohne, dass die Folter von irgendeinem
Gericht untersucht wurde. Diese Schritte sind alle retraumatisierend für
mich. Ich bin jetzt wieder mit einem spanischen Gericht konfrontiert,
welches die systematische Folter von baskischen, politische Dissidenten
und Dissidentinnen geschützt hat und immer noch schützt. Für mich ist
das eine sehr grosse Herausforderung.
Hat das spanische Gericht deine Schilderungen der Folter überhaupt jemals angehört?
Ja,
2006 war ich beim Audiencia Nacional und dort konnte ich zum ersten Mal
einer Richterin erzählen, was mir angetan wurde. Nicht weil die
Richterin daran Interesse hatte, sondern weil ich wollte, dass in die
Audiencia Nacional als Teil dieses repressiven Folterapparats meine
Geschichte hört. Ich wollte die Stimme erheben gegen die systematische
Folter von Baskinnen erheben. Vorher hat mich niemand gefragt, kein
Gericht hat sich dafür interessiert. Die Audiencia Nacional ist ja
selber Teil dieses repressiven Folterapparats.
Wie war es für dich, sieben Jahre nach der Folter nochmals darüber zu sprechen?
Es
fühlte sich so an, als würde ich nochmals in den Folterkeller
zurückkehren. Es war schon ein grosser Schritt für mich, die Folter zu
überwinden. Bis zu dieser Anhörung wusste ich nicht, ob ich überhaupt
jemals fähig wäre, darüber zu sprechen und die Folterer zu
identifizieren. Dass ich es konnte, ist ein Erfolg für mich. Aber dass
nun immer wieder meine Glaubwürdigkeit infrage gestellt wird und damit
die Folterer geschützt werden, reisst die Wunde der Folter wieder auf.
Dass die Schweiz da auch noch mitmacht, verletzt mich noch mehr. Der
Termin im Mai war darum wichtig für mich.
Warum?
Bisher
haben die Schweizer Behörden nur brieflich mit mir kommuniziert. Die
Anhörung, die der spanische Staat gefordert hat, war meine erste
Möglichkeit, persönlich zu sagen, dass ich keine Kollaboration mit einem
Folterstaat eingehen werde. Wäre ich gar nicht hingegangen, dann hätte
das strafrechtliche Konsequenzen für mich bedeutet. Das war auch als
Statement gemeint.
Wie beurteilst du die Haftbedingungen im Zürcher Bezirksgefängnis?
Absolut
ungeeignet für eine Frau wie mich, die sexualisierte Gewalt erfahren
hat. Meine Traumatisierung ging auch im Gefängnis weiter.
Im Schweizer Gefängnis?
Ja.
Die politische Verfolgung von Frauen hat immer auch eine sexistische
Komponente, das hat bei mir schon im Foltergefängnis in Spanien
angefangen. Ich wurde vergewaltigt und sexualisiert gefoltert. Das habe
ich überlebt. Aber diese Gewalt gegen Frauen ist strukturell bedingt,
das passiert auch hier in der Schweiz. Meine spezifischen Bedürfnisse im
Gefängnis als Frau, die sexualisierte Folter überlebt hat, wurden
kategorisch ignoriert.
Wie genau hat sich das geäussert?
Wenn
du so etwas überlebst wie ich und du kommst in ein patriarchales,
hierarchisches System wie im Bezirksgefängnis, ist das sehr schwer
auszuhalten. Ich war auf einer Abteilung, die sich Frauen, trans Frauen
und Männer mit psychischen Probleme geteilt haben. Es gab kaum
Wärterinnen, praktisch alle Wachen waren Männer. Auch das hat mich
retraumatisiert. Und diese patriarchalen Strukturen ziehen sich hoch bis
in die Justiz: Unseren Aussagen wird nicht geglaubt, unsere Bedürfnisse
werden ignoriert. Und wenn man jemandem nicht glaubt, muss man auch
keine spezifischen Massnahmen für diese Person ergreifen. Ich war
täglich 23 Stunden isoliert in meiner Zelle, konnte keinen Sport machen –
ich hatte keine Möglichkeit, irgendwo Halt zu finden. Und dass ich
gemerkt habe, dass man mir während den Befragungen schlichtweg nicht
glauben will, hat sich für mich wie erneute Folter angefühlt.
Was hat dir Halt gegeben in dieser Zeit?
Ich
habe während der Haft viel geschrieben und gezeichnet. Und ich habe es
mir zur Aufgabe gemacht, über diese unmenschlichen Zustände zu
berichten, wenn ich frei bin. Es geht mir dabei nicht um mich als
Individuum, sondern um alle Gefangenen, die unter dieser Praxis leiden.
Ich finde meine Freiheit durch die Freiheit von allen anderen
Unterdrückten.
Wie hast du das Schweizer Asylverfahren empfunden?
Ich
musste chronologisch und sehr detailliert erzählen, was mir angetan
wurde, weil ich ja beweisen musste, dass es wirklich passiert ist und
das Ziel der Behörden war, Widersprüche zu finden. Ich wurde bereits
gemäss dem Istanbul-Protokoll als Folteropfer anerkannt (Anm. der Red.: Von der UNO empfohlenes Handbuch zur Ausbildung von Gutachtern für Folteropfer).
Für mich wäre es weniger schlimm gewesen, wenn man mir einfach ins
Gesicht gesagt hätte, dass man mir nicht glaubt. Aber es geht mir auch
hier um die strukturellen Probleme: Mir wird nicht geglaubt obwohl ich
diejenige bin, die gefoltert wurde. Ich bin diejenige, die Beweise
bringen muss – nicht die, die mir das angetan haben. Zwar wurde meine
posttraumatische Belastungsstörung anerkannt, aber es wurden auch hier
keine Massnahmen ergriffen.
Warum nicht?
Mir wurde gesagt, dass es nicht möglich ist, eine Therapie zu machen, während man in Untersuchungshaft sitzt.
Hattest du im Bezirksgefängnis anderweitigen Zugang zu psychologischer Hilfe?
Zuerst
nicht. Erst nachdem bei mir während des Asylprozesses eine
posttraumatische Störung bestätigt wurde, und durch Druck meiner
Anwältin und meines Anwalts. Ich musste also zu Beginn selber Ressourcen
und Möglichkeiten finden, das Erlebte zu verarbeiten – aber in einem
Zustand der politischen Verfolgung gibt es diese Möglichkeit nicht. Man
hat ja ständig Angst, dass es wieder geschieht. Dazu kommt, dass meine
inzwischen zehnjährige Tochter diese Angst auch spürt. Das ist mit das
Schlimmste für mich – dass auch meine Tochter Teil dieser politischen
Verfolgung ist.
Im Bezirksgefängnis gab es eine Art Notfalldienst, aber wirkliche Betreuung gab es keine. Aber durch die grosse Solidarisierung, auch von verschiedenen Menschenrechtsorganisationen, die in dieser Zeit stattfand, haben wir erreicht, dass mir eine private Psychologin zur Seite gestellt wurde. Aber wie soll man eine Foltertherapie machen an einem Ort, der diese Erlebnisse ständig triggert und reaktiviert?
Wie äussert sich das?
Während
meiner Haftstrafe in der Schweiz durfte ich meine Tochter nicht einmal
umarmen, wenn sie mich besucht hat und konnte sie nur durch die
Trennscheibe sehen. Wenn sie mir eine Zeichnung geschickt hat, wurde die
beschlagnahmt und es dauerte drei Wochen, bis sie bei mir war. Weil
alles an mir politisiert wurde, sogar die Beziehung zu meinem Kind. Ich
durfte auch nicht baskisch mit ihr sprechen. So bricht man eine Person,
wenn man sie dort trifft, wo es ihr wehtut.
Inwiefern beeinflusst das den Alltag von dir und deiner Tochter?
Für
meine Tochter fühlt es sich so an, als würden wir bald einen schlimmen
Unfall erleben, aber wir wissen nicht genau wann. Diese Ungewissheit
macht den Alltag sehr schwierig. Darum fordere ich eine politische
Entscheidung der Schweiz. Wir wollen frei leben können. Der jetzige
Zustand ist keine Freiheit.
Wie lebst du heute?
Ich wohne in Zürich mit meiner Tochter und arbeite beim Radio LoRa.
Was bedeutet dir das Radiomachen?
Als
ich diese 17 Monate in Isolationshaft sass, war das Radio eine wichtige
Möglichkeit für mich, weil es diese Mauer der Isolation gebrochen hat
und Solidarität in meine graue Zelle gebracht (das “ Knastradio ” von Radio LoRa ist gemeint).
Das hat mir viel Hoffnung und Kraft gegeben weil ich merkte, dass das,
was ich sage, auch draussen gehört und aufgenommen wird. Ich wusste,
dass ich das auch machen will, wenn ich rauskomme. Und das mache ich
heute – nicht nur beim Knastradio, sondern auch in anderen Sendungen.
Mir hilft das enorm, ich will aktiv sein und weiter kämpfen. Für mich
ist es die ideale Kombination von Aktivismus und Arbeit – als
alleinerziehende Mutter muss ich ja auch Geld verdienen. Auch die
starke, breit abgestützte feministische Solidarität, die sich rund um
den Frauenstreik gebildet hat, gibt mir viel Kraft. Ich muss einfach
weitermachen, Kämpfen ist meine Therapie.